Lieber investiere ich 1000 Euro ins Ticket“

Großmeister Artur Jussupow über Nachwuchsförderung und Wetten zur WM

Vom 29. April bis zum 1. Mai steigt in Berlin das Finale der Schachbundesliga: drei Runden mit 16 Teams und rund 70 Großmeistern. Den Titel dürften die punktgleichen Spitzenreiter OSG Baden-Baden und SG Solingen unter sich ausmachen. Wer ist Ihr Favorit?

Artur Jussupow: Mein Herz schlägt für Solingen, für diesen Verein spiele ich seit 1996. Es wäre aber eine kleine Sensation, wenn wir es schaffen sollten. Die Qualität des amtierenden Meisters, Baden-Baden, ist einfach zu groß: Die ersten zehn gemeldeten Spieler – darunter Topleute wie Fabiano Caruana, Maxime Vachier-Lagrave und Ex-Weltmeister Viswanathan Anand – kommen alle auf eine Elozahl von mehr als 2700. Da bleibt uns wohl nur die Hoffnung auf einen Stichkampf.

Solingen spielt in den letzten Runden gegen Schwäbisch Hall, Aachen, Deizisau. Treten Sie auch an?

Nein, ich selbst sitze nicht am Brett. Da sind bessere Spieler gefragt (lacht). Im Ernst: Wir müssen uns optimal aufstellen, um unsere kleine Chance zu nutzen.

Werder Bremen liegt drei Punkte zurück auf Tabellenplatz vier und hat zumindest theoretische Chancen auf die Meisterschaft. Was erwarten Sie von den Grün-Weißen?

Werder ist immer für eine Überraschung gut. Ein gut geführter Verein, für den ich große Sympathie habe. Ähnliches gilt für die Stadt. Sie ist interessant, übersichtlich und nicht zu groß. Hier habe ich schon Bundesligapartien und die Deutsche Meisterschaft 1998 gespielt.

Werders wichtigster Neuzugang für diese Saison, der russische Großmeister Daniil Dubov, ist bisher viermal zum Einsatz gekommen – und hat alle Partien gewonnen. Was halten Sie von ihm?

Er ist eines der größten russischen Talente. Eine Zukunftsinvestition, die noch einen deutlichen Schritt nach vorn machen wird. Man darf jedoch nicht vergessen: Alle Mannschaften haben sich enorm verstärkt. So gilt die Schachbundesliga mit ihren vielen Topspielern zu Recht als die stärkste Schachliga der Welt. Da möchte ich niemanden herausheben.

Bei der EM im März hat Dubov enttäuscht: Als Achter der Setzliste gestartet, belegte er in Georgien Platz 57. Wie kann ein Trainer dazu beitragen, dass der Spieler einen Misserfolg gut wegsteckt?

Ein Trainer sollte klarmachen: In Niederlagen stecken größere Chancen als in Siegen. Analysiert man die Partien und geht den Fehlern auf den Grund, lässt sich das Potenzial das nächste Mal besser abrufen. Gerade für junge Spieler ist es nicht so schlimm, wenn mal etwas schiefgeht.

Im Halbfinale der Schachweltmeisterschaft ist für Levon Aronjan nahezu alles schiefgegangen. Der Armenier galt als einer der Favoriten – und wurde dann doch Letzter. Woran lag es?

Auf den ersten Blick sieht das natürlich sehr schlecht aus, wenn man mit 1,5 Punkten Rückstand auf den Vorletzten endet. Aber auf diesem Niveau entscheidet ein kleiner Fehler. Das ist ihm zum Verhängnis geworden. Dazu kam, gleich in der dritten Runde, dass Wladimir Kramnik gegen ihn brilliert und mit 7. … Tg8 vielleicht die Neuerung des Jahrhunderts gespielt hat. Im weiteren Turnierverlauf hat Aronjan dann auch noch zu viel riskiert.

Souveräner Sieger des Halbfinales ist Fabiano Caruana aus den USA. Im November kämpfen in London er und Titelverteidiger Magnus Carlsen um die Weltmeisterschaft. Wenn Sie 1000 Euro auf den Sieger setzen müssten: Auf wen würden Sie tippen?

Lieber investiere ich die 1000 Euro in ein Flugticket nach England, denn wir werden ein tolles Finale sehen. Caruana ist in Sachen Schach längst nicht am Ende der Fahnenstange angekommen. Was er kann, hat er nicht nur jetzt in Berlin, sondern vor allem auch beim Sinquefield Cup 2014 bewiesen: Caruana gewann das US-Turnier mit drei Punkten Vorsprung auf Carlsen und brachte es auf eine unglaubliche Eloleistung von 3103. Die große Preisfrage lautet jedoch: Kann er sein großes Potenzial künftig konstant abrufen? Bislang war das nicht der Fall.

Der beste deutsche Schachspieler ist der 41-jährige Liviu-Dieter Nisipeanu, mit 2681 Elopunkten steht er auf Platz 59 der Weltrangliste. Wann bekommt Deutschland seinen Carlsen oder Caruana?

Vincent Keymer, 13 Jahre, ist sehr begabt. Vor wenigen Tagen hat er das Grenke Chess Open in Karlsruhe gewonnen und dabei mehr als 50 Großmeister hinter sich gelassen. Er kann sich noch weiter entwickeln. Bis zum vergangenen Herbst habe ich selbst mit ihm gearbeitet und hoffe, dass er es schafft.

Warum schaffen es nicht mehr Deutsche unter die 100 besten Spieler?

Die Leistungsförderung in Deutschland startet zu spät. Kinder erst ab einem Alter von zehn Jahren systematisch auszubilden – das reicht nicht. Wir haben noch nicht einmal eine offizielle Deutsche Meisterschaft der U8. Eine Förderung ab sechs Jahren ist nötig und sollte normal sein. Ich sage aber auch: Die Ausbildung ist schwierig, es geht um die richtige Balance von Ambitionen auf der einen Seite, kindliche Entwicklung und Schule auf der anderen. Wir sehen das in unserer Schachschule, in der wir versuchen, U8- und U10-Spieler auf internationales Niveau zu bringen.

Was raten Sie jungen Menschen mit dem Berufswunsch Schachspieler? Kann man davon leben?

Nur die wenigsten können das. Man sollte schon die Top 20 der Weltrangliste anpeilen. Eine riskante Sache, denn für die Realisierung muss alles stimmen. Und in welchem anderen Beruf musst du zu den 20 Weltbesten zählen, um genug zu verdienen? Auch deshalb wollten meine Frau und ich nicht, dass unsere Kinder, Ekaterina und Alexander, Schachprofis werden.

Sie selbst haben den Schritt gewagt …

Aber zu einer ganz anderen Zeit, unter ganz anderen Voraussetzungen. Als ich nach harter Arbeit mit meinem Trainer Mark Dworezki die U20-Juniorenweltmeisterschaft 1977 gewonnen hatte, bekam ich eine staatliche finanzielle Unterstützung, die Freiräume geschaffen hat. So konnte ich später, als ich mein Wirtschaftsstudium abbrach, Vollprofi werden.

Inzwischen sind Sie nur noch selten in einem Turniersaal zu sehen …

Dieses Übel werde ich dieses Jahr beseitigen (lacht). Erst am vergangenen Wochenende war ich für Apeldoorn in der niederländischen Meesterklasse im Einsatz. Und im Juli nehme ich in Radebeul bei Dresden an der Offenen Mannschaftsweltmeisterschaft der Senioren teil. Außerdem spiele ich gern Blitz- und Schnellschachturniere. Ich habe also durchaus noch schachliche Ambitionen (lacht).

Das Gespräch führte Mario Assmann.

Dieses Interview ist zuerst und ungekürzt im Weser-Kurier erschienen, siehe Ausgabe vom 12. April 2018.